Projekt

Die ‚Antike‘ stellt in vielfacher Hinsicht die Referenz für alle nachfolgenden Epochen dar. Dabei variierten die jeweiligen Vorstellungen und Konzepte von ‚Antike‘ erheblich und lassen sich jedenfalls nicht auf nur ein Leitkonzept von der griechisch-römischen Vergangenheit bringen: Wie ‚die Antike‘ zeitlich und räumlich verstanden wurde, was als der konkrete Fokus, was als kanonische Handlungen, Werke und Werte galt und wie diese jeweils rezipiert wurden, konnte zu verschiedenen Zeiten, an verschiedenen Orten und in verschiedenen Wissenskontexten ganz unterschiedlich ausfallen. Europas Interessen an den eigenen ‚Antiken‘ – wie denjenigen anderer Weltgegenden – waren zu keinem Zeitpunkt einheitlich. Vielmehr wurde und wird ‚Antike‘ stets von der jeweiligen Gegenwart aus zu verstehen versucht, ja konstruiert. Aus diesen, von den jeweiligen Gegenwartskontexten und -erwartungen geprägten ‚Antiken‘ ergibt sich ein Variantenreichtum der Antikevorstellungen, auf den das 21. Jahrhundert zurückblickt und zu dem auch unsere eigene Gegenwart beiträgt. Das Projekt geht daher auch nicht von einer heutigen Definition der ‚Antike‘ aus, sondern beschäftigt sich mit Materialen und Bildquellen, die im 17. und 18. Jahrhundert unter der Kategorisierung ‚antik‘ behandelt wurden.

In dieser umfassenden Perspektive lässt sich für die bildliche Erfassung und Überlieferung der Antiken im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts eine besondere Bedeutung erkennen, denn in diesem Zeitraum:

  • verdichten sich die Spannungen zwischen normativen und pluralen Antikenverständnissen;
  • erreichen die Mobilität antiker Relikte und ihre medialen Transformationen ein neues Ausmaß – gerade die visuelle Dokumentation verdeutlicht dies;
  • und es erfolgen nachhaltige Ausdifferenzierungen der Wissenschaftsgeschichte der Altertumswissenschaft, der Archäologie und der Kunstgeschichte

Die Auseinandersetzung mit antiken Artefakten und ihrer visuellen ‚Aufbereitung‘ und Verbreitung war einer der wesentlichen Faktoren für die Bilderwelt, das Verständnis von und den Umgang mit Bildern und Artefakten in der Frühen Neuzeit überhaupt. Bei aller bisherigen Beschäftigung damit wird dieser Materialkomplex auch für jede zukünftige Auseinandersetzung mit dieser Zeit weiterhin eine zentrale, unverzichtbare Herausforderung darstellen. Mit seiner grundlegenden Erweiterung der Materialbasis zur Forschung über antike Artefakte und deren Bilder in der Frühen Neuzeit eröffnet bzw. befördert das Vorhaben Antiquitatum Thesaurus neue Forschungsperspektiven und trägt zur Revision tradierter Kanones und Annahmen bei.

Die Erfassung der Bildquellen und der Verlauf des damit zusammenhängenden Arbeitsplans sind nach einer Kombination von geographischen, chronologischen und materiellen Kriterien organisiert. Als Grundlage für die Schwerpunktsetzung wird dabei auf den größten frühneuzeitlichen Bilder-Thesaurus zur Antike, Bernard de Montfaucons 15-bändige L‘Antiquité expliquée et représentée en figures (1719–24) zurückgegriffen, mithin also von einem historischen Standpunkt ausgegangen, der gleichwohl vielfach auf aktuelle Interessen vorausweist: Der Blick richtet sich daher auf den gesamten Mittelmeerraum und das nordalpine Europa – von der iberischen Halbinsel und England bis nach Kleinasien und Ägypten. Er reicht, insbesondere in Ägypten und in Etrurien, vor die griechisch-römische Kultur zurück und endet andererseits mit den ersten spätantiken Bildzeugnissen des Christentums als Staatsreligion. Dabei wird – wie in der Frühen Neuzeit vor Winckelmann weithin üblich – nicht zwischen (Hoch)Kunst und anderen Artefakten unterschieden, sondern mit Münzen, Gemmen und kunsthandwerklich gestalteten Alltagsgegenständen eine vielfältige und umfassende materielle Basis einbezogen. Indem das Projekt unter anderem mit der Zeichnungssammlung des Pier Leone Ghezzi ein weiteres, ‚umfassend‘ angelegtes Bilder-Kompendium erschließt, werden freilich auch die historischen Kriterien Montfaucons ihrerseits kritisch kontextualisiert und relativiert.