#3: Ein Hühnerkäfig – oder zwei?

Timo Strauch

Der folgende Beitrag gibt einen weiteren Einblick in die tägliche Arbeit des Antiquitatum Thesaurus und illustriert die Vielfalt und Komplexität des auszuwertenden Quellenmaterials aus der visuellen frühneuzeitlichen Überlieferung antiker Artefakte.

Im dritten Buch des ersten Teilbandes von Band 2 seiner „Antiquité expliquée“, in dem es um den Kultus der Griechen und der Römer geht, widmet sich Bernard de Montfaucon den Altären, den Opfergeräten sowie den Opferhandlungen. Auf fünfzehn Tafeln (von Nr. LIV bis LXVIII) bildet er eine Vielzahl von Gerätschaften ab, die seiner Ansicht nach von den Priestern bzw. ihren Assistenten bei der Durchführung ihrer Rituale zu verschiedensten Zwecken benutzt wurden. Darunter finden sich auch Utensilien, die aus heutiger Sicht irrtümlicherweise in diesen Kontext gerieten, wie beispielsweise einige etruskische Spiegel, die Montfaucon als Paterae, also Opferschalen, ansah. Zwei andere Objekte fallen inhaltlich ebenfalls ein wenig aus dem Rahmen, nämlich die Abbildungen zweier Hühnerkäfige auf den Tafeln LXIII (Abb. 3) und LXIV (Abb. 1).

Im zugehörigen Text äußert sich Montfaucon wie folgt:

„Voici deux cages pullaires, l’une donnée par M. de la Chausse, où les deux poulets paroissent mangeant le grain avec avidité: l’autre dessinée à Rome par M. le Brun. Nous avons déja parlé de leur usage, & de l’augure qu’on tiroit de la maniere que les poulets recevoient le grain qu’on leur apportoit. S’ils se jettoient avidement sur le grain, c’étoit un bon augure; si leur avidité étoit si grande, qu’en sautant & en mangeant ils répandissent une partie du grain, l’augure étoit excellent; & c’est ce qu’on appelloit tripudium solistimum: s’ils refusoient de manger, c’etoit un mauvais augure.“ [1]

Der römische Brauch, anhand des mehr oder weniger ausgeprägten Enthusiasmus, mit dem zwei speziell zu diesem Zweck gehaltene Hühner die ihnen hingeworfenen Körner aufpicken, für ein bevorstehendes militärisches Unternehmen gute oder schlechte Vorzeichen zu ergründen, wird in antiken Textquellen beschrieben, zeitgenössische bildliche Darstellungen der Weissagungshandlung oder der zugehörigen Gerätschaften sind dagegen rar. [2]

Offensichtlich ging Montfaucon davon aus, seinen Lesern zwei verschiedene Ausführungen des antiken tragbaren Hühnerkäfigs vorführen zu können, die von zwei voneinander unabhängigen Quellen bezeugt waren. Obwohl in der Grundanlage ähnlich, fallen die zahlreichen mal mehr mal weniger eklatanten Unterschiede hinsichtlich der Proportionen und der Verzierungen der Käfige sofort ins Auge, hinzu kommt die abweichende Darstellung der beiden pickenden Hühner. Auf die tatsächlichen antiken Vorbilder der Abbildungen geht Montfaucon nicht ein, was daran liegt, dass auch seine Quellen in dieser Hinsicht vage blieben.

Die Vorlage für Abb. 3 auf Taf. LXIII findet sich auf Tafel 25 der „Sectio tertia“ von Michel-Ange de la Chausses „Romanum Museum“ von 1690. Den Beweis dafür liefert der entsprechende Ausschnitt in einem Klebealbum, welches sich in der Bibliothèque nationale de France unter den sogenannten „Papiers de Montfaucon“ befindet und in dem viele der vorbereitenden Materialien für den zweiten Band der „Antiquité expliquée“ zusammen mit den ersten Probedrucken der Tafeln erhalten sind. [3]

La Chausses Tafel ist überschrieben mit „CAVEA PVLLARIA“, trägt den Hinweis „Ex antiquo marmore“ und ist von Pietro Santi Bartoli signiert. Im zur Tafel gehörigen Text beschreibt La Chausse den Brauch und zählt die ihm bekannten antiken Textquellen auf, verschweigt aber das Vorbild seiner Illustration. [4]

Die Vorlage für Montfaucons zweite Abbildung ist eine Zeichnung auf Fol. 60 r in Charles le Bruns „Livre d‘anticques tirées d‘après celles qui sont à Rome“. In diesem Band hatte Le Brun eine Auswahl an sauber ausgeführten Antikenzeichnungen zusammengestellt, um sie nach der Rückkehr von seinem dreijährigen Rom-Aufenthalt (1642–1645) seinem Gönner, dem „Chancellier de France“ Pierre Séguier (1588–1672) zu widmen und zu schenken. [5]

Der direkte Vergleich zwischen den Vorlagen und ihrer jeweiligen Kopie bei Montfaucon macht deutlich, wie zuverlässig – zumindest in diesen beiden Fällen – sein(e) Illustrator(en) vorging(en). Sowohl Bartolis Kupferstich als auch Le Bruns lavierte Federzeichnung wurden mit großer Präzision und offensichtlichem Einfühlungsvermögen in Montfaucons Tafeln übertragen.

Die Seite bei Le Brun zeigt neben dem Hühnerkäfig („Cage Pullaire“) noch einen Lituus („Baston augural des Anciens Romains“) und eine Schöpfkelle („Sympulle“). Alle drei Motive sind – ebenso wie vierzehn weitere im dritten Abschnitt des Zeichnungsbuchs – Kopien nach Holzschnitten in Guillaume du Chouls „Discours de la religion des anciens romains“, das erstmals 1556 in Lyon erschienen war und das in zahlreichen weiteren Ausgaben bis ins 17. Jahrhundert hinein gedruckt wurde. [6] In seinem Text gibt Du Choul einen Hinweis auf das antike Monument, das seiner Abbildung zugrunde lag: „[…] quelle se voit à Rome en une table de marbre, en la maison du Cardinal de Cesis, accompaignée d’un fort beau epigramme […].“ [7]

Mit Hilfe dieser Indizien gelingt die Identifizierung des antiken Vorbilds in Gestalt des monumentalen Grabreliefs des Marcus Pompeius Asper, das erstmals Ende des 15. Jahrhunderts in Grottaferrata bezeugt ist. Im frühen 16. Jahrhundert gelangte es nach Rom in den Besitz der Familie Cesi und in deren Palast beim Vatikan, bevor es im 17. Jahrhundert in die Sammlung von Camillo Massimo wechselte und seither im heutigen Palazzo Albani-Del Drago bei den Quattro Fontane vermauert ist. [8]

Das Relief hat das Interesse zahlreicher Antiquare geweckt, seine Inschrift, in der die militärische Laufbahn des M. Pompeius Asper nachgezeichnet wird, und die teilweise noch gut erhaltenen detaillierten bildlichen Darstellungen einiger Militaria als Attribute des Verstorbenen waren willkommene Studienobjekte bei der Erschließung der antiken Sachkultur. Der Hühnerkäfig bezieht sich dagegen auf Atimetus, Freigelassener des M. Pompeius Asper und Stifter des Grabreliefs, der das Amt eines pullarius bekleidete, also für die Haltung der weissagenden Hühner zuständig war. Ein Kupferstich aus dem Verlag des Antonio Lafreri von 1551 beförderte die Bekanntheit des Reliefs, aber auch eine größere Zahl von Zeichnungen ist überliefert. [9] Betrachtet man in diesen insbesondere die Wiedergabe des Hühnerkäfigs, fällt die relativ große Bandbreite der Interpretation des ausgerechnet in diesem Detail stärker beriebenen antiken Marmors auf:

Es wechseln vor allem die Ausgestaltung des Tragegriffs, die mal abstrakt mit mehr oder weniger eingerollte Voluten, mal als in Tierprotomen endend dargestellt wird, sowie die Verzierung des oberen Abschlusses des Käfigs. Letztere bleibt jedoch im Profil immer kastenförmig, auch die Anordnung der beiden nach links gerichteten pickenden Hühner ist annähernd gleich.

Der abstrakte Griff, die geradlinige Silhouette des Käfigs und das gleichgerichtete Vogelpaar finden sich auch im Holzschnitt von Du Choul wieder, womit dessen Ableitung von dem Grabrelief zweifelsfrei bestätigt sein dürfte. Aber wie steht es um die Tafel bei La Chausse? Sie zeigt mit dem figürlich gestalteten Tragegriff nur ein Attribut, das in der Dokumentation des 16. Jahrhunderts sonst nur durch den hinsichtlich der getreuen Wiedergabe besonders zuverlässigen Zeichner des Codex Coburgensis bezeugt ist, während der geschweifte Zungen- oder Pfeifenstab der Bekrönung des Käfigs, vor allem aber die einander zugewandte Anordnung der Hühner nahelegt, es könne sich hierbei auch um die Wiedergabe einer anderen antiken Darstellung einer cavea pullaria handeln. Schließlich dürften die Käfige auch in der Antike nicht einförmig genormt gewesen sein.

Die Auflösung liefert eine anonyme Zeichnung aus dem Museo Cartaceo des Cassiano dal Pozzo (1588–1657). [10] Sie zeigt die Aufnahme des Grabreliefs des M. Pompeius Asper unter Auslassung der Inschrift, und die Wiedergabe des Hühnerkäfigs weist alle drei charakteristischen Merkmale auf, die auch die Tafel bei La Chausse kennzeichnen – allerdings seitenverkehrt.

Dabei legen wiederum Unterschiede in den Proportionen und in der Behandlung einzelner Details nahe, dass es sich hierbei nicht um ein unmittelbares Abhängigkeitsverhältnis zwischen Dal-Pozzo-Zeichnung und Bartoli-Stich handelt. Aber beide stehen sich jedenfalls untereinander näher, als einem der oben angeführten Beispiele. Darüber hinaus ergibt sich aus dem Vergleich die sichere Erkenntnis, dass auch La Chausses Tafel auf das Grabrelief des M. Pompeius Asper zurückgeht und somit Montfaucons zwei Hühnerkäfige lediglich zwei Interpretationsformen ein und desselben antiken Artefakts sind.

Bei der schier unüberschaubaren Zahl an Quellen, die Montfaucon für sein Bilderkompendium auswertete, ist es wenig verwunderlich, dass er hier und da den Überblick darüber verlor, wie einzelne seiner Vorlagen zueinander in Beziehung standen. In anderen Stellen hingegen thematisiert er die Problematik paralleler visueller Tradierung aber durchaus selbst, z.B. dort wo er im „Supplément“ von 1724 ergänzende Abbildungen zu bereits 1719 publizierten Objekten nachliefert. [11] Wie häufig bzw. wie selten sowohl das eine wie auch das andere geschah, werden die Erschließungsarbeiten des Thesaurus unter anderem ans Licht bringen.

[1] Bernard de Montfaucon: L’antiquité expliquée et représentée en figures, Paris 1719, Bd. 2.1, S. 145; vgl. https://doi.org/10.11588/diglit.57724#0286.

[2] Ausführlich vorgestellt werden der Brauch und die darüber unterrichtenden literarischen, epigraphischen und ikonographischen Quellen von Giuseppina Foti: Funzioni e caratteri del pullarius in età repubblicana e imperiale, in: Annali della Facoltà di Lettere e Filosofia dell’Università degli Studi di Milano, 64.2 (2011), S. 89–121. Auch die beiden Abbildungen bei Montfaucon werden von Foti kurz besprochen.

[3] Paris, Bibliothèque nationale de France, Dép. des manuscrits, Ms. Latin 11916, Fol. 116 r; vgl. https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b105083557/f244.item#.

[4] Michel-Ange de la Chausse: Romanum Museum sive Thesaurus Eruditae Antiquitatis, Rom 1690, S. 88; vgl. https://hdl.handle.net/2027/gri.ark:/13960/t72v96h2j?urlappend=%3Bseq=306.

[5] Paris, Bibliothèque nationale de France, Dép. des manuscrits, Ms. Français 17217, Fol. 60 r; vgl. https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b52517132k/f141.item#. Zum Zeichnungsbuch siehe Stéphane Loire: Charles le Brun à Rome (1642–1645). Les dessins d’après l’antique, in: Gazette des Beaux-Arts, 136 (2000), S. 73–102.

[6] Montfaucon übernimmt noch drei weitere Zeichnungen von Le Brun, die auf Holzschnitte von Du Choul zurückgehen, offenbar ohne sich dieses Kopienverhältnisses bewusst zu sein, obwohl er auch Du Chouls Publikation direkt als Quelle für seine Abbildungen heranzieht, vor allem bei antiken Münzen.

[7] Guillaume du Choul: Discours de la religion des anciens romains, Lyon 1556, S. 236; vgl. http://digital.slub-dresden.de/id1668893525/238.

[8] Vgl. CIL XIV 2523: https://arachne.dainst.org/entity/2460745; Arachne-ID 1086881: https://arachne.dainst.org/entity/1086881; siehe zuletzt ausführlich Maria Grazia Granino Cecere: A proposito del sepolcro di M. Pompeius Asper e della familia del suo pullarius (CIL, XIV 2523), in: Munus Laetitiae. Studi miscellanei offerti a Maria Letizia Lazzarini, hg. von Francesco Camia, Lavinio del Monaco und Michela Nocita, Rom 2018, Bd. 1, S. 421–439 (mit der älteren Literatur).

[9] Zur Dokumentation des Reliefs in der Renaissance vgl. CensusID 157295 (http://census.bbaw.de/easydb/censusID=157295) sowie Birte Rubach: Ant. Lafreri formis Romae. Der Verleger Antonio Lafreri und seine Druckgraphikproduktion, Berlin 2016, S. 44–46 und S. 316, Nr. 306.

[10] Windsor, Royal Library, RL 8253; vgl. Cornelius C. Vermeule: The Dal Pozzo-Albani Drawings of Classical Antiquities in the Royal Library at Windsor Castle, in: Transactions of the American Philosophical Society, 56.2 (1966), S. 14; Ingo Herklotz: Cassiano dal Pozzo und die Archäologie des 17. Jahrhunderts, München 1999 (Römische Forschungen der Bibliotheca Hertziana, 28), S. 317, Abb. 14.

[11] So z.B. für drei der 1710 in der Villa Verospi ausgegrabenen ägyptischen Statuen (Montfaucon 1719, Bd. 2.2, Taf. CVII bzw. Bernard de Montfaucon: Supplément au livre de l'antiquité expliquée et représentée en figures, Paris 1724, Bd. 2, Taf. XXXIV, XXXVI und XXXVII – beide Male nach ungenannten Vorlagen), oder für einen etruskischen Spiegel (Montfaucon 1719, Bd. 2.1, Taf. LXII, Abb. 3 nach „Fabretti“ bzw. Montfaucon 1724, Bd. 2, Taf. XVIII, Abb. 2 nach „l’Abbé Fauvel“).