Digitale Projekte und elektronische Datenerschließung bzw. Datenverwaltung sind mittlerweile integraler Bestandteil geisteswissenschaftlicher Forschungsarbeit. Die zunehmende Anzahl an Digitalisaten und Datenbanken unterstützt das Studium heterogenen und örtlich verstreuten Materials in seinen Vernetzungen.
Außer der Möglichkeit, bequem Informationen über analoge Werke – von grafischen Konvoluten bis hin zu Artefakten – zu erwerben, gewährleisten Digitalisate eine bessere Erhaltung der Originale und bieten technisch optimale Bedingungen, um stattdessen ihre Abbildungen bequem am Bildschirm zu erforschen, zu vergrößern bzw. vergleichend zu analysieren. Die Digitalisierungsplattform DWork der Universitätsbibliothek Heidelberg [1] hat bereits zahlreiche der für den Arbeitsplan des Projekts Antiquitatum Thesaurus zentralen Druckwerke des 17. und 18. Jahrhunderts in vorbildlicher Form basiserschlossen und zugänglich gemacht und weitere Quellenkonvolute werden im Laufe der Kooperation mit dem Thesaurus folgen. Daneben stützt sich das Projekt auf in ähnlicher Weise von GALLICA bereitgestellte Digitalisate von Zeichnungskonvoluten und Druckwerken, darunter viele aus verschiedenen Abteilungen der Bibliothèque nationale de France (BnF). Außerdem sind zahlreiche vom Theasurus zu erschließende Artefakte im département des Monnaies, médailles et antiques der französischen Nationalbibliothek in einer Sammlungsdatenbank verzeichnet. [2]
Trotz dieser vortrefflichen digitalen Arbeitsbedingungen ist es für die angemessene wissenschaftliche Erschließung des Materials erstrebenswert, die unterschiedlich gearteten Werke wenigstens in repräsentativer Auswahl auch im Original zu konsultieren und – wo die Sammlungskontexte es erlauben – einander unmittelbar gegenüber zu stellen. Dafür und für die Etablierung einer fruchtbaren langfristigen Zusammenarbeit ist es außerdem notwendig, mit den wichtigsten Institutionen ins direkte Gespräch zu treten.
Da im ersten Modul des Projekts – Ägypten: Auf der Suche nach den Ursprüngen – die Menge der Grafiken, die Konzentration der ägyptischen oder als ägyptisch angesehenen Objekte, viele Sammler und ihre cabinets, das Netzwerk innerhalb der République des Lettres und Bernard de Montfaucon – Protagonist und mit seinem Werk „L’Antiquité expliquée et représentée en figures“ roter Faden des Projekts – vorwiegend mit Frankreich und speziell mit Paris und den dortigen Institutionen im Bezug stehen, war die Wahl der Hauptstadt an der Seine als Ziel unseres ersten Forschungsaufenthalts naheliegend.
Unsere Studienreise hatte ihren Auftakt in München mit dem Besuch der Ausstellung Neues Licht aus Pompeji in den Staatlichen Antikensammlungen (Idee, Konzept und Gestaltung von Ruth Bielfeld zusammen mit Johannes Eber und Peter Weidenhammer). Astrid Fendt begleitete uns durch die beeindruckend gestalteten Räume. Die lucerne (Öllampen) kommen in ihren zahlreichen, teilweise extravaganten Erscheinungsformen und unterschiedlichen Größen in fast jedem Sammelwerk zur Rezeption antiker Gegenständen der Alltagkultur vor: Fortunio Liceti (1577–1657), Giovanni Battista Casali (1578–1650), Athanasius Kircher (1602–1680), Filippo Buonanni (1638–1725) u.v.a.m. zeigen eine erlesene und aussagekräftige Auswahl von Exemplaren aus verschiedenen Sammlungen. Obwohl die in München gezeigten Exponate aus Pompeji stammen und somit für die vom Thesaurus erschlossenen Quellenwerke nicht als direkte Vorbilder in Frage kommen, ermöglichten mehrere lucerne-Typen, Parallelen zu den im Thesaurus verzeichneten Dokumenten und Artefakten zu ziehen (z.B. ThesaurusID 1709601). Anschaulich waren nicht nur die Rekonstruktion von Privaträumen, in denen diese Beleuchtungsmittel zu praktischen Zwecken eingesetzt wurden, sondern auch die in der Ausstellung angesprochenen Themen wie die Erforschung der ästhetischen Werte dieser archäologischen Gattung oder die Lichtkultur in der Antike.
Weiterhin stand auf dem Plan die Sammlung des Staatliches Museum Ägyptischer Kunst (SMÄK), wo sich ein besonders interessantes Werk ägyptischer Kunst befindet: die anthropomorphe Standfigur des falkenköpfigen Gottes Horus aus der Mitte des 14. Jahrhunderts v. Chr., auch als Barberinischer Osiris bekannt, der 1636 in Rom bei S. Maria sopra Minerva, im Gebiet des antiken Iseum Campense aufgefunden wurde. [3] Wir wollten die Faszination nachvollziehen, die diese Statue unmittelbar danach und über die Jahrhunderte hinweg ausgeübt hat, und aus der fast ein Dutzend frühneuzeitlicher Darstellungen hervorgegangen ist (vgl. ThesaurusID 1398304). Sie finden sich in den Werken bzw. in den Sammlungen des sog. Pseudo-Duperac (1636), von Alessandro Donati (1584–1640), Cassiano dal Pozzo (1588–1657), Joachim von Sandrart (1606–1688), Athanasius Kircher (1602–1680), Richard Topham (1671–1730) und Bernard de Montfaucon (1655–1741).
Einmal in Paris, war es zunächst angezeigt, dem Grab von Bernard de Montfaucon (1655–1741) einen Besuch abzustatten, der in der Chapelle de la Vierge in Saint-Germain-des-Prés neben Jean Mabillon (1632–1707) und René Descartes (1596–1650) beigesetzt ist. Der Text seines Epitaphs lautet:
Von einer aktuellen Ausstellung zur Gotik in Toulouse ein wenig an den Rand gedrängt, konnten wir im Frigidarium der Thermen von Lutetia, heute Teil des Musée de Cluny – Musée national du Moyen Âge, den Pfeiler der Nautae Parisiaci aus der Nähe betrachten. Die heute vier separat präsentierten Blöcke mit Darstellungen römischer oder gallischer Gottheiten und mit einer Weihinschrift, bildeten einst einen Pfeiler in einem Heiligtum auf der Île de la Cité und werden auf das 1. Viertel des 1. Jahrhunderts n. Chr. datiert. Vor Ort konnten wir mithilfe der Alpha-Version der Thesaurus-Datenbank auf die frühesten grafischen Darstellungen von 1711 zum direkten Vergleich zurückgreifen (vgl. ThesaurusID 1672345).
Der Paris-Aufenthalt war aber primär mit der Konsultation von Dokumenten der BnF verbunden: Manuskripte aber auch Artefakte aus ihren verschiedenen Départements und Depots.
Die Durchsicht des zwischen 1714 und 1719 entstandenen Albums mit Zeichnungen von Objekten aus der ehemaligen Sammlung Nicolas-Joseph Foucaults (1643–1721) Desseins des figures, bas reliefs et inscriptions. Recueil de Figures et autres monumens antiques – eine der wichtigsten Quellen und Vorlagen für Montfaucon – bestätigte die heterogene Natur des darin enthaltenen grafischen Bestands. [4] Von den etwa tausend in einem Inventar aufgelisteten Objekten tragen etwa zweihundertfünfzig Verweise auf die Zeichnungen, die von Foucault in Auftrag gegeben wurden. [5] Das Nebeneinander von direkt auf den Blättern des Albums ausgeführten Zeichnungen, von Zeichnungen, die auf die Albumseiten eingeklebt wurden und von Ausschnitten aus Montfaucons Probedrucken macht eine eingehendere Betrachtung des Albums erforderlich, um seinen Entstehungsprozess und die relative Chronologie seiner Inhalte besser zu verstehen.
Durch das großzügige Entgegenkommen von Mathilde Avisseau-Broustet ergab sich während unseres Besuchs die einmalige Gelegenheit, die Wiedergabetreue der Zeichner, z.B. bei den Transkriptionen von Hieroglyphen, und das Größenverhältnis zwischen der Grafik und den noch vorhandenen Artefakten zu prüfen, wie z.B. im Fall eines Herz-Skarabäus [6]:
... und einer kleinen Horus-Stele [7]:
Ein Höhepunkt unseres Besuchs waren einige kurz davor in Berlin erschlossene ägyptische Objekte – aber auch einige neuzeitliche Werke, die ebenfalls in die grafischen Corpora aufgenommen wurden, entweder, weil sie als antike Originale galten oder weil sie ikonografisch relevant für die jeweiligen Abhandlungen waren. Während nur eine kleine Auswahl dieser Artefakte im Museum der BnF ausgestellt ist, konnten wir einige direkt aus dem Depot der BnF entnommene Objekte in Augenschein nehmen und genauer inspizieren. Dies sind einige der kostbaren Stücke:
Vor einem Jahr gab ein enigmatischer Bronzeknauf den Auftakt unserer Blog-Reihe. Zwei aquarellierte Zeichnungen in einem der beiden Alben des sog. Cabinet de Peiresc geben dieses kuriose Objekt wieder, das wir kurz davor in der Museumsabteilung der BnF in den Händen halten konnten (ThesaurusID 1315419): [11]
Für die Untersuchung und die Nachvollziehbarkeit des Entstehungsprozesses der 15 Bände der "L’Antiquité expliquée" (1719–1724) sind insbesondere die sog. Papiers de Montfaucon extrem spannend. [12] Von den insgesamt 17 Alben enthalten mehrere in unterschiedlichem Umfang jenes Bildmaterial, das Montfaucon aus unzähligen, höchst heterogenen Quellen zusammentrug und dann in Zusammenarbeit mit den für ihn tätigen Kupferstechern Schritt für Schritt für die Drucklegung vorbereitete. So zeigt eine Seite im Album Ms. latin 11917, wie eine gezeichnete Kopie nach der Zeichnung des oben gezeigten Herz-Skarabäus aus der Sammlung Foucault von Montfaucon mit weiteren Zeichnungen ägyptischer Artefakte aus anderen Quellen in Zusammenhang gebracht wird. Unmittelbar davor ist ein Probedruck der Tafel eingebunden, auf der die Abbildungen in eine andere Ordnung gebracht sind, auf dem aber die Angaben zur Herkunft der Abbildungsvorlagen von Montfaucon noch handschriftlich nachgetragen wurden. Auf der fertigen Tafel im publizierten ersten Zustand sind diese dann ebenso wie der Titel und die Nummerierung in den Stich übertragen.
Die Zusammenhänge zwischen den verschiedenen Formen der grafischen Reproduktion und die Bezüge zum abgebildeten Artefakt werden von der Thesaurus-Datenbank in ihrer Gänze dargestellt und anschaulich gemacht.
Weitere Konvolute der BnF, die zukünftig für den Thesaurus erschlossen werden, stammen aus dem Nachlass von Nicolas Claude Fabri de Peiresc, darunter Ms. Dupuy 667. [13] Es enthält zahlreiche Briefe, Abhandlungen über antike Numismatik, Glyptik und Epigraphik sowie Wachsabdrücke von antiken Münzen und Gemmen sowie beeindruckende Zeichnungen und ist bislang online nur als Digitalisat eines s/w-Mikrofilms konsultierbar.
Die Antiquités grecques et romaines sind eine noch weitgehend unbearbeitete Zeichnungs- und Grafiksammlung im Bestand des Dép. Estampes et photograhie der BnF. [14] Es handelt sich dabei um eine jüngere Form eines Papier-Museums in der Tradition von Cassiano dal Pozzo und einen spezifisch archäologischen Vorläufer von Aby Warburgs Bilderatlas. Die umfangreiche Sammlung mit über 2.000 grafischen Wiedergaben von Antiken unterschiedlichster Herkunft ist bisher noch gar nicht digitalisiert.
Auch in der Abteilung für ägyptische Kunst des Louvre befinden sich einige Objekte, die bereits in der Zeit vor den napoleonischen Expeditionen an den Nil ihren Weg nach Europa gefunden hatten und in den grafischen Quellen, die für den Thesaurus ausgewertet werden, anzutreffen sind, darunter die beiden Sphinxen des Nepherites I. (ThesaurusID 1315329) und des Achoris (ThesaurusID 1315331) sowie eine Sitzstatue der Göttin Wenut (ThesaurusID 1552188). [15]
Für das im Dezember 1827 eingeweihte musée Charles X (das heutige département des Antiquités égyptiennes) wurde Jean-François Champollion zum Direktor ernannt, der sich kurz zuvor (1822) durch die Entzifferung der altägyptischen Hieroglyphen einen Namen gemacht hatte. Für das allererste ägyptische Museum des Louvre hatte er einen kleinen Führer mit Beschreibungen und detaillierten Erläuterungen zu den 5.333 teilweise ausgestellten und der Öffentlichkeit völlig unbekannten Denkmälern zusammengestellt: Notice descriptive des monumens égyprienns du musée Charles X … (1827). Trotz seiner fehlenden Bebilderung sind mittlerweile die Objekte soweit identifiziert und erschlossen, [16] dass sie der Thesaurus mit den dazugehörigen bildlichen Quellen verlinken und kommentieren konnte, so beispielsweise auch die Würfelfigur des Petamenophis (ThesaurusID 1432981) und die heute stark fragmentierte Statue der Kleopatra VII. (ThesaurusID 1597938). [17]
Das Fazit der Reise kann wenig überraschen: Die unmittelbare Anschauung der Gegenstände der eigenen wissenschaftlichen Arbeit führt am ehesten zu zuverlässigen Erkenntnissen hinsichtlich Größe, Materialität und Erhaltungszustand und ist durch keine noch so perfekte Digitalisierung zu ersetzen. Aber fast nie ergibt sich die Gelegenheit, mehrere Zeugnisse der Vergangenheit heute am selben Ort und zur selben Zeit nebeneinander betrachten zu können – manchmal genügt bereits die Aufbewahrung in zwei verschiedenen Abteilungen derselben Institution, um dafür unüberwindliche Hürden aufzurichten. An dieser Stelle gewinnt die jederzeit und an jedem Ort verfügbare Datenbank mit ihren virtuellen Verknüpfungen von Informationen zu Objekten, Personen, Orten und historischen Ereignissen, wie sie der Antiquitatum Thesaurus anstrebt.
[1] UB Heidelberg: DWork – Heidelberger Digitalisierungsworkflow; http://dwork.uni-hd.de.
[2] BnF, Médailles et Antiques. Catalogue en ligne; https://medaillesetantiques.bnf.fr/ws/catalogue/app/report/index.html.
[3] Vgl. Alfred Grimm: Münchens Barberinischer "Osiris". Metamorphosen einer Götterfigur, Ausstellungskatalog München 2001; https://katalog.ub.uni-heidelberg.de/titel/65646257.
[4] Paris, BnF, département des Monnaies, médailles et antiques, inv. FOL RES MS-96, https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b72000419.
[5] Vgl. Mathilde Avisseau-Broustet: La Collection de Nicolas-Joseph Foucault (1643–1721) et de Nicolas Mahudel (1673–1747), in: Histoires d'archéologie. De l'objet à l'étude [en ligne] 2009, https://doi.org/10.4000/books.inha.2788.
[6] Paris, BnF, département des Monnaies, médailles et antiques, inv. AA.Eg.40, https://medaillesetantiques.bnf.fr/ark:/12148/c33gb260r7 und Paris, BnF, département des Monnaies, médailles et antiques, inv. FOL RES MS-96, https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b72000419/f208.item.
[7] Paris, BnF, département des Monnaies, médailles et antiques, inv. 53.237, https://medaillesetantiques.bnf.fr/ark:/12148/c33gbr819 und Paris, BnF, département des Monnaies, médailles et antiques, inv. FOL RES MS-96, https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b72000419/f212.item.
[8] Paris, BnF, département des Monnaies, médailles et antiques, inv. Foucault.A4.Pl.XII, https://medaillesetantiques.bnf.fr/ark:/12148/c33gb24hds und Paris, BnF, département des Monnaies, médailles et antiques, inv. FOL RES MS-96, https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b72000419/f374.item.
[9] Paris, BnF, département des Monnaies, médailles et antiques, inv. 56.358, https://medaillesetantiques.bnf.fr/ark:/12148/c33gbrv47 und Paris, BnF, département des Estampes et photographie, RESERVE AA-53-FOL, Fol. 58 r, https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b104611474/f121.item.
[10] Paris, BnF, département des Monnaies, médailles et antiques, inv. 53.36, und Paris, BnF, département des Monnaies, médailles et antiques, inv. FOL RES MS-96, https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b72000419/f192.item.
[11] Paris, BnF, département des Monnaies, médailles et antiques, inv. bronze.1885, https://medaillesetantiques.bnf.fr/ark:/12148/c33gb179cb und Paris, BnF, département des Estampes et photographie, RESERVE AA-54-FOL, Fol. 99 r, https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b525058020/f208.item.
[12] Paris, BnF, département des Manuscrits, Ms. latin 11904–11920.
[13] Paris, BnF, département des Manuscrits, Ms. Dupuy 667, https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/btv1b10032883z.
[14] Paris, BnF, département Estampes et photographie, Ga 69 Fol.–Ga 84 Fol.
[15] Paris, Musée du Louvre, inv. A 27, https://collections.louvre.fr/en/ark:/53355/cl010009338, inv. A 26, https://collections.louvre.fr/en/ark:/53355/cl010007879, inv. N 4535, https://collections.louvre.fr/ark:/53355/cl010011397.
[16] Vgl. Jean François Champollion: Notice descriptive des monuments égyptiens du Musée Charles X, hg. von Sylvie Guichard, Paris 2013; https://katalog.ub.uni-heidelberg.de/titel/67432458.
[17] Paris, Musée du Louvre, inv. N 93, https://collections.louvre.fr/ark:/53355/cl010008657, inv. E 13102, https://collections.louvre.fr/ark:/53355/cl010016440.