#11: πάντα ῥεῖ: „Alles fließt“ – Der Nilometer auf der Insel Rhoda, Kairo

Kay C. Klinger

Der Bau des großen Assuan-Staudamms 1960–1970 an der Südgrenze Ägyptens (Abb. 1) ermöglichte die Kontrolle über die jährliche Nilflut, die das Land zu beiden Seiten des Flusses überschwemmte.[1]  Die Flut (Abb. 2) brachte zwar Sedimente mit sich, die sich als fruchtbarer Schlamm auf den Feldern ablagerten und ertragreiche Ernten ermöglichten – und überhaupt das Entstehen einer antiken Hochkultur –, die Stärke der Flut unterlag jedoch auch seit jeher Schwankungen, die verheerende Auswirkungen haben konnte: Zu große Wassermassen rissen Häuser mit sich und beschädigten Kanäle und Baudenkmäler; ein zu geringer Wasserstand führte dagegen zu Missernten und daraus resultierenden Hungersnöten.[2] Da in pharaonischer Zeit die Nilflut nicht reguliert werden konnte, wurden Nilpegelmessstellen, sogenannte Nilometer, entwickelt, mit deren Hilfe sich die zu erwartende Wassermenge vorausberechnen ließ.[3] Auf diese Weise konnten rechtzeitig entsprechende Vorkehrungen getroffen werden, z.B. die Sicherung von Brennmaterial und der Vorjahresernte, damit sie nicht von der Flut mitgerissen werden konnten.[4]

Im ersten Band seines Werks „Oedipus Aegyptiacus“ (Rom 1652) behandelt Athanasius Kircher (1602–1680) in “Syntagma I.“ die Geographie Ägyptens. Er beginnt mit allgemeinen Kapiteln zu Regionsbezeichnungen und der Aufteilung des Landes in drei Bereiche: den thebanischen und den memphitischen Raum sowie das Delta, die jeweils in zehn Gaue („Nomoi“) unterteilt seien.[5] Durch eine tabellarische Aufstellung werden die verschiedenen Gaue mit den zum Gau gehörenden Städten und dem jeweiligen Hauptkult bzw. Tierkult in Verbindung gesetzt (S. 5–7). Anschließend behandelt Kircher nacheinander die dreißig Nomoi Ägyptens. Jedes Unterkapitel beginnt mit einer Sammlung der Gaubezeichnungen in anderen Sprachen, vornehmlich in Griechisch, Latein und Koptisch, gefolgt von einer Schilderung spezifischer Charakteristika (Kulte, Bauwerke u. ä.). Dazu zieht er eine vielfältige und vielsprachige Sammlung von Berichten, Abhandlungen und Bibelzitaten heran, die den jeweiligen Gau beschreiben. Nur etwa die Hälfte der Gaubeschreibungen sind mit Illustrationen versehen, die meist in Form eines kleinen quadratischen und in den Textblock eingefügten ‚Signets‘ gestaltet sind und ein für den jeweiligen Gau spezifisches Tier oder Symbol darstellen.

Ganz anders verhält es sich beim Unterkapitel zum vierten Gau der mittleren Region, in dem ein großformatiger Holzschnitt den im Text behandelten und beschriebenen Nilometer illustriert (Abb. 3).

Zu sehen ist in axonometrischem Schnitt ein hohes freistehendes Gebäude mit rundem Grundriss, das am Ufer des Nils steht. Die umgebende Landschaft im Hintergrund ist weitgehend unbebaut, nur in weiter Entfernung lassen sich links drei Pyramiden erkennen. Der Boden des Bauwerks ist von Wasser bedeckt, das durch einen schmalen, geradlinigen und baulich gefassten Kanal vom Fluss dorthin geleitet wird. Die Wände des Bauwerks sind innen und außen umlaufend durch Halbsäulen auf Piedestalen gegliedert, außen in drei in der Höhe abnehmenden Geschossen, denen innen zwei Geschosse und eine Attika entsprechen. Innen sind in die Wände zwischen den Halbsäulen halbrunde Nischen eingelassen, in der Attika wird ein querrechteckiges Fenster, das zu drei Seiten mit Voluten geschmückt ist, von zwei schlichten querovalen Fenstern flankiert. Im Zentrum des Bauwerks befindet sich eine freistehende, über die gesamte Höhe aufragende Säule mit kronenförmigem Kapitell, auf deren Schaft sich Markierungen befinden, die mit den Zahlen 12 bis 20 beschriftet sind. Das Gebäude trägt kein Dach und ist dementsprechend nach oben hin offen.

In der rechten unteren Ecke der Grafik findet sich eine kleine Signatur in Form eines Monogramms, das möglicherweise aus den Buchstaben M und A gebildet wird und dessen Identifizierung sich als schwierig erweist (Abb. 4).[6]

Der begleitende Text schildert unter Berufung auf Ptolemäus und nicht näher genannte „Arabes“, dass der Nilometer auf einer Insel stehe, die zum Nomos Heracleopolis gehöre. Seinerzeit habe die Insel den modernen Namen „Phestad“ getragen und werde von einigen Einheimischen fälschlicherweise mit den antiken Stätten Heliopolis und Memphis identifiziert. Es sei dagegen sicher, dass sich der Nilometer in der Nähe Kairos befände und mit Nilopolis, einer pharaonischen Stadt, identisch sei.[7] Anschließend zitiert Kircher die Beschreibung des Nilometers aus der „Geographia Nubiensis“ in arabischer Sprache und fügt eine lateinische Übersetzung an:

Dem nicht ohne Weiteres eingängigen Text (Abb. 5) zufolge verfüge der Nilometer über folgende Merkmale:[8]

          • auf der Ostseite einer Inselspitze gelegen, in Richtung El-Fustat
          • ein großes Gebäude (habitatio), das im Innern von allen Seiten umrundet werden kann
          • ein runder Umgang auf Säulen (?)
          • in der Mitte des Gebäudes ein großer, vertiefter Bereich, zu dem (rundherum?) marmorne Stufen hinabführen
          • in der Mitte der Vertiefung steht eine Marmorsäule mit Markierungen von Ellen und „Fingern“
          • auf der Säule ein Element aus Stein, das farbig verziert und vergoldet ist
          • sauber ausgearbeitete „Finger“ (auf der Säule?)
          • durch ein Rohr oder einen Tunnel gelange Wasser in den Bereich
          • dies geschehe nur während des Nilhochwassers im August.

Weiterhin aus derselben Quelle zitierend kommt Kircher anschließend auf die Bedeutung der Nilstände in diesem spezifischen Nilometer zu sprechen und gibt an, welche Wasserpegel Probleme mit sich brachten und welche Wassermengen als ideal angesehen wurden. Mit einem Zitat nach Strabo schließt er seine Behandlung des Nilometers ab.[9]

Aufgrund der zur Lokalisierung des Bauwerks dienenden topografischen Angaben herrscht allgemeiner Konsens darüber, dass es sich bei dem von Kircher besprochenen und illustrierten Nilometer um eine noch heute existierende Pegelmessstelle auf der Insel Rhoda im Herzen Kairos handelt (Abb. 6).

Mit ihr bzw. mit den dort vorhandenen Inschriften beschäftigten sich seit dem 9. Jh. n. Chr. diverse arabische Geographen, Historiker und Reisende, bevor Kircher sich dem Thema widmete.[10] Nach eigenen Angaben entnahm er die Beschreibung des Nilometers aus der „Geographia Nubiensis“. Unter diesem Titel wurde 1619 in Paris das ursprünglich aus dem 12. Jahrhundert stammende Werk „Nuzhat al-Muschtāq fī ichtirāq al-āfāq“ des arabischen Geographen Muhammad al-Idrisi (um 1100–1166) von Gabriel Sionita und Johannes Hesronita erstmals in lateinischer Übersetzung publiziert,[11] nachdem es zuvor 1592 in Rom unter dem lateinischen Titel „De geographia universali“ im arabischen Original erschienen war.[12] Allerdings stimmen die im „Oedipus“ zitierten lateinischen Passagen nicht wortwörtlich mit Sionitas und Hesronitas Version überein und der Beginn des arabischen Zitats wurde vermutlich von Kircher aus einer unbekannten Quelle entnommen und dem Direktzitat vorangestellt.[13] Für seine Publikation fügte Kircher überall, insbesondere bei arabischen und anderen außereuropäischen Textbelegen, eine lateinische Übersetzung an. Der Kircher-Schüler Gaspar Schott (1608–1660) lobt in seiner Laudatio für seinen Lehrer dessen umfangreiche Sprachkenntnisse: Er sei nicht nur der klassischen Sprachen Latein und Griechisch mächtig gewesen, sondern habe auch über Kenntnisse in verschiedenen semitischen Sprachen – unter anderem auch Arabisch – verfügt.[14] Unter diesem Gesichtspunkt ist denkbar, dass Kircher die arabischen Quellentexte, auch im Fall des Nilometers von Rhoda, selbst ins Lateinische übersetzte, weil er entweder auf die Version Sionitas und Hesronitas keinen Zugriff hatte oder weil er meinte, darauf nicht angewiesen zu sein.[15]

Es ist anzunehmen, dass der Text ein weiteres Mal in die Umgangssprache des Grafikers übersetzt wurde, bevor nach diesem Wortlaut letztlich der Holzschnitt hergestellt wurde. Besonders hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass sich die Beschreibung, nach der Kircher die Illustration anfertigen ließ, schon zu seiner Zeit rund 500 Jahre alt war und das beschriebene Nilometer über die Jahrhunderte baulichen Veränderungen unterlag.

Die Nilometer sind eine Erfindung aus der frühen pharaonischen Zeit, die noch bis ins 20. Jh. genutzt wurden. Auf dem sogenannten Palermo‑Stein, der in chronologischer Reihenfolge die Könige von der prädynastischen Zeit bis zur 5. Dynastie listet, finden sich neben Angaben zu Festen und politischen Ereignissen in einer schmalen Extrazeile auch Pegelmessungen des Nils: Die bruchstückhaft erhaltene Tafel belegt, dass spätestens ab der 1. Dynastie (3032–2853 v. Chr.) jährlich der Wasserstand des Nils gemessen wurde.[16] Beim Nilometer von Rhoda (Abb. 7) handelt es sich jedoch um einen Bau aus frühislamischer Zeit. Ob an derselben Stelle bereits zu pharaonischer Zeit eine Messstelle gestanden hat, ist nicht bekannt.[17] Um 715 n. Chr. wurde unter Kalif Walid ibn Abd al-Malik an der Südspitze der Insel ein einfacher Nilometer errichtet, der jedoch schon 861 n. Chr. auf Befehl von Kalif al-Mutawakkil neu gebaut wurde. In den folgenden Jahrhunderten erfolgten mehrere Restaurierungen;[18] wegen der Zerstörung der Kuppel um 1800 durch die französische Besatzung[19] wurde der oberirdische Gebäudeteil im 20. Jahrhundert nach Bauaufnahmen von Frederic Louis Norden aus dem 18. Jahrhundert rekonstruiert.[20] Als der große Staudamm bei Assuan in Betrieb ging, verlor die Messstelle schließlich ihre Funktion und die Zuläufe wurden versiegelt.

Dem Besucher zeigt sich heute ein freistehendes eingeschossiges Gebäude mit quadratischem Grundriss. Darauf erhebt sich eine zwölfseitige Holzkonstruktion mit ebenso vielen Fenstern und einem steilen zwölfseitigen Zeltdach (Abb. 8a). Im Norden führen einige Stufen vom heutigen Bodenniveau hinunter zur Eingangstür. Dahinter liegt ein einziger Raum, in dessen Mitte der 13 m tiefe Schacht des Nilometers angelegt ist (Abb. 8b). Um den viereckigen Schachtrand verläuft ein Umgang und vier Pfeiler tragen die filigran vergoldete und bemalte, außen durch das Zeltdach verborgene Kuppel (Abb. 8c, 8d). Der Schacht weist oben eine quadratische Form auf, der Grundriss der untersten 2 m ist jedoch rund.

Außerdem verjüngt er sich stufenweise über die gesamte Höhe zum Boden hin. Eine ringsum an den Wänden verlaufende Treppe, die von einigen Absätzen unterbrochen wird, führt bis zum Grund hinunter. Etwa auf halber Höhe sind in allen vier Wänden große rechteckige und spitzbogig gewölbte Nischen eingelassen. Drei Öffnungen in der Ostwand auf drei verschiedenen Niveaus fungierten zum Einlassen des Nilwassers, das durch unterirdische Kanäle aus dem Fluss herangeleitet wurde. Im Zentrum des Schachts ragt die achteckige Messsäule auf, deren Schaft in regelmäßigem Abstand Markierungen aufweist und ein korinthisches Kapitell trägt. Darauf ruht ein vom östlichen zum westlichen Schachtrand reichender Querbalken. Dieser sowie der obere Rand des Schachts sind mit kufischen Inschriften versehen, bei denen es sich um Texte und Suren aus dem Koran handelt, die Wasser und Fruchtbarkeit thematisieren (Abb. 8b).[21]

Nach Kircher wurde der Nilometer von Rhoda noch viele weitere Male gezeichnet, gemalt und in Kupfer gestochen. So sind beispielsweise die Darstellungen von Paul Lucas (1719) (Abb. 9)[22] und von Richard Pococke (1743–45) (Abb. 10)[23] im Druck erschienen.

Weitere Aufnahmen fertigte Frederik Louis Norden (1708–1742) während seiner Ägyptenreise 1737–38 an, die Karl Markus Tuscher für die 1755 postum in zwei Bänden erschienene Publikation von dessen Reisebericht radierte (Abb. 11a, 11b).[24]

Im Jahr 1755 erschien zudem eine Aufnahme des Nilometers mit einer einfachen Karte der Umgebung von Claude-Louis Fourmont (1703–1780) (Abb. 12a, 12b).[25]

Besonders detailliert wurde das Gebäude während der Napoleon-Expedition 1798–1801 aufgenommen und 1809 in dem Werk „Description de l’Égypte“ publiziert.[26] Dort wird nicht nur der Nilometer selbst in Grundriss, Schnitt und Details wiedergegeben, sondern auch ein detaillierterer Grundriss des Palasts, in dessen Inneren es sich damals befand (Abb. 13).

Einen eher künstlerisch-dokumentierenden Anspruch zeigen dagegen die Grafiken von Luigi Mayer (1755–1803),[27] die die Pegelmessstelle im Jahr 1803 noch vor seiner Teilzerstörung abbilden (Abb. 14). Vom bekannten Vedutenmaler David Roberts stammt eine Darstellung des Nilometers aus dem Jahr 1838,[28] als dessen kompletter oberirdischer Bau nicht mehr vorhanden war. Erhalten waren lediglich der Schacht und die zentrale Messsäule mit dem Querbalken (Abb. 15).

Nach eingehender Betrachtung der genannten Bildquellen muss jedoch auch festgehalten werden, dass sich einige Unterschiede und Unstimmigkeiten bemerkbar machen: Der Querschnitt in der „Description de l’Égypte“ suggeriert, dass die um den Schachtrand verlaufende Galerie unterschiedlich breit angelegt gewesen sei, was jedoch weder durch den zugehörigen Grundriss noch durch die anderen Grafiken bestätigt wird. Bedingt durch eine zeitgleiche Nilflut war es für Norden zudem nicht möglich, den Schacht bis zum Grund aufzunehmen, wodurch die Messsäule in seiner Bauaufnahme zu kurz geraten ist. Weitere Ungereimtheiten ergeben sich bei David Roberts hinsichtlich Aufbau und Proportionen des Treppenverlaufs, der so wie gezeigt am bestehenden Bau nicht nachvollziehbar ist, und die genaue Position der in der „Description de l’Égypte“ abgebildeten Eingangspforte bleibt spekulativ. Davon abgesehen erscheint die Lage der Eingänge zum Nilometer insgesamt unstimmig: Während der Grundriss von Lucas eine Pforte im Süden vermuten lässt, befindet sie sich bei Pococke mittig in der Nordwand.

Fourmont und die „Description de l’Égypte“ stimmen zwar darin überein, dass der Nilometer sowohl von Osten als auch von Norden her betreten werden konnte, allerdings zeigt der Grundriss in der „Description de l’Égypte“ nicht nur einen, sondern zwei Ostzugänge, deren Lage nicht mit der bei Fourmont übereinstimmt. Während bei Lucas und Pococke der Schacht des Nilometers von einem Arkadengang eingefasst ist, wird bei Norden, Fourmont, Mayer und in der „Description de l’Égypte“ eine Kolonnade gezeigt. Was die Pultdächer über dem Umgang bei Norden betrifft, so stimmen auch sie nicht mit anderen Bauaufnahmen überein, bei Fourmont ist die Form und Gestaltung der Kuppel ebenfalls nicht mit den anderen Darstellungen vergleichbar und Lucas bildet nichts oberhalb der Arkade ab.[29] In Mayers Grafik ragt die Messsäule hoch über den Schachtrand hinaus, sodass der Querbalken an beiden Enden auf den Architraven der Kolonnade liegt. Wie bei Mayer trägt die Säule auch bei Norden und in der „Description de l’Égypte“ ein korinthisches Kapitell, das bei Roberts durch einen schlichten vertikalen Vierkantquader ersetzt wurde und bei Lucas gar nicht dargestellt wird. Außerdem wird die um den Schachtrand verlaufende Umfassung in jeder Abbildung anders dargestellt. Gänzlich uneinig sind sich alle hinsichtlich der Anzahl und der Ausrichtung der Kanäle, durch die das Nilwasser in die Messstelle geleitet wurde; das mag darin begründet sein, dass die meisten Beobachter das Bauwerk möglicherweise gerade dann besuchten, als der Schacht mehr oder weniger stark geflutet war.

Erstaunlich ist, dass angeblich alle genannten Forschungsreisende und Reisemaler vor Ort waren und den Nilometer mit eigenen Augen betrachten konnten und dennoch sind die Variationen in den einzelnen Abbildungen vielzählig. Viele Unterschiede in den Abbildungen sind vermutlich dadurch zu erklären, dass sie einige der baulichen Veränderungen, die am Nilometer seit Idrisi vorgenommen wurden, illustrieren.[30] Vielleicht sind aber auch einige der Inkonsistenzen auf das Desinteresse an einer genauen Wiedergabe oder die Fantasie des jeweiligen Autors zurückzuführen? Womöglich entstanden einige der Grafiken nach einem einmaligen Besuch, anderen liegen dagegen unterschiedlich präzise Vermessungen zugrunde. Zumindest die widersprüchliche Ausrichtung der Kanäle und die unterschiedliche Darstellung des Schachtes dürften sich auf einen hohen Nilpegel zurückführen lassen. Vermutlich konnten sich die jeweiligen Forschungsreisende und Reisemaler zum Zeitpunkt ihres Besuchs lediglich an den noch sichtbaren Umrissen der Nischen und deren Position im Verhältnis zum Nil orientieren, um die Lage der Kanalöffnungen zu bestimmen.[31] Gleichwohl: zumindest der grundlegende Aufbau des Nilometers von Rhoda ist im Wesentlichen bei allen genannten Abbildungen einheitlich darstellt.

Kommen wir zurück zu Kircher, seinen arabischen Quellen und dem Holzschnitt des unbekannten Monogrammisten. Interessanterweise decken sich sowohl das heutige Erscheinungsbild und die Darstellungen des Nilometers aus dem 18. und 19. Jh. als auch die Grafik bei Kircher mit der Beschreibung Idrisis weitgehend. Dennoch ist der Nilometer von Rhoda in der Kircher-Illustration kaum wiederzuerkennen (Abb. 16).

Bei Idrisi wird von einem runden Umgang auf Säulen (?) berichtet. Dabei handelt es sich vermutlich um die Beschreibung der Kolonnade, die in den Bauaufnahmen von Norden und in der „Description de l’Égypte“ und in der Darstellung Mayers gezeigt wird, und die einst die Kuppel und das Dach trug. Bei der Erstellung der Grafik Kirchers wurde die Beschreibung jedoch offensichtlich falsch verstanden und führte zu der mit Halbsäulen verzierten Innen- und Außenfassade. Wichtige Eigenschaften wie die quadratische Grundform des oberirdischen Baus sowie des Schachts bleiben bei Idrisi unerwähnt und werden dementsprechend auch nicht grafisch wiedergegeben. Dass sich der Nilometer und das umgebende Gebäude nur teilweise oberirdisch und zum Großteil unterirdisch befinden, wird ebenso wenig erwähnt. Infolgedessen ist es nachvollziehbar, dass der Nilometer als ausschließlich oberirdisch angelegter Bau dargestellt wird. Die Lage der Kanäle wird ebenfalls nicht näher beschrieben und in der Grafik aus diesem Grund zu ebener Erde am Boden des Nilometers vermutet. Die im Text erwähnten Treppen im Inneren des Schachtes sind aus unerfindlichen Gründen weggelassen worden und die verzierte Struktur auf der Spitze der Messsäule, die vermutlich den Querbalken meint, wird zwar knapp geschildert, findet sich jedoch in der Grafik nur andeutungsweise als Kapitell der Säule wieder. Obwohl bei Idrisi nicht genannt, wurden im Holzschnitt drei Fenster in die Attika eingefügt. Das könnte entweder auf zusätzliche Informationen zurückzuführen sein, die Kircher durch anderweitige, nicht erwähnte Quellen erhalten hatte, oder auf die Fantasie des Künstlers. Dass sich Letzterer jedenfalls nicht selbst vor Ort ein Bild von dem Gebäude machte, sondern seine Illustration ausschließlich aufgrund der von Kircher an ihn weitergereichten Beschreibung erstellte, ist angesichts der erhaltenen Bildinformationen offensichtlich.

Letztlich beruhen die knappe Schilderung Idrisis, die Übersetzung seiner Beschreibung ins Lateinische durch Kircher und die visuelle Umsetzung des Grafikers allesamt auf Interpretationen und teilweise auch auf Missverständnissen, die zu einem „Stille-Post-Effekt“ führten. In gewisser Hinsicht werden auf diese Weise die Worte Heraklits πάντα ῥεῖalles fließt illustriert: Alles ist im Fluss und somit veränderlich – in diesem Fall die menschliche Wahrnehmung eines Bauwerks und deren Vermittlung im Bild.


[1] Vgl. H. Schamp, Sadd el-Ali, der Hochdamm von Assuan I, in: Geowissenschaften in unserer Zeit, 1983, Nr. 2, S. 57.

[2] Vgl. LÄ 3 (1980) S. 82 s.v. Hunger (W. Guglielmi).

[3] Am Wasserstand, der im Nilometer gemessenen wurde, orientierten sich nach Angaben klassischer Autoren auch die Steuerabgaben: War die Flut hoch, gelangte mehr Wasser ins Landesinnere und versprach eine größere Ernte. Siehe dazu: Strab. 17, 48; Hdt. 2, 109.

[4] Vgl. S. Prell, Der Nil, seine Überschwemmung und sein Kult in Ägypten, in: SAK 38, 2009, S. 214.

[5] Die moderne Forschung unterscheidet den oberägyptischen Landesteil mit 22 Gauen und den unterägyptischen mit 20 Gauen.

[6] Vgl. G. Nagler, Die Monogrammisten, Bd. 4, ca. 1871, S. 471, Nr. 1522, wo drei Varianten des Monogramms gemeinsam behandelt werden und „Domenico Ambrogio, genannt Minghino del Brizio, oder ein unbekannter Formschneider“ als mögliche Urheber angegeben werden.

[7] Vgl. A. Kircher, Oedipus Aegyptiacus I, Rom 1652, S. 32-33.

[8] Die Unstimmigkeiten in Kirchers Beschreibung ließen sich möglicherweise durch einen gründlichen Abgleich mit Idrisis arabischem Original aufklären. Eine solche textkritische Untersuchung war im Rahmen dieses Beitrags nicht möglich. Für freundliche Hinweise in dieser Richtung danke ich Dr. Michael Marx (BBAW).

[9] Vgl. A. Kircher, Oedipus Aegyptiacus I, Rom 1652, S. 33-34.

[10] Vgl. W. Popper, The Cairo Nilometer, Berkeley & Los Angeles 1951, S. 41-47.

[11] M. Idrisi, Geographia Nubiensis. Id est accuratissima totius orbis in septem climata divisi descriptio, continens praesertim exactam uniuersae Asiae, & Africae, rerumq[ue] in ijs hactenus incognitarum explicationem. Recens ex Arabico in Latinum versa a Gabriele Sionita & Ioanne Hesronita, Paris 1619 <https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb10218990-9>.

[12] M. Idrisi, De geographia universali: Hortulus cultissimus, mire orbis regiones, provincias, insulas, urbes earumque dimensiones & orizonta describens, Rom 1592 <https://mdz-nbn-resolving.de/urn:nbn:de:bvb:12-bsb11223705-1>.

[13] Vgl. M. Idrisi, De geographia universali, Rom 1592, S. 112-113 <https://www.digitale-sammlungen.de/de/view/bsb11223705?page=200,201> und M. Idrisi, Geographia Nubiensis, Paris 1619, S. 98 <https://www.digitale-sammlungen.de/view/bsb10218990?page=170>.

[14] Vgl. G. Schott, Benevolo Lectori, in: A. Kircher, Oedipus Aegyptiacus I, 1652, o. S.

[15] Seine lateinische Übersetzung des arabischen Textes kann jedoch aufgrund von fehlerhaften Bezügen und Satzdrehungen als unsauber gelten.

[16] Vgl. Urk. I, 235-249. Der Palermostein dokumentiert textlich das Vorhandensein einer Pegelmessstelle. Archäologische Befunde für Nilometer aus diesen Zeiten finden sich bisher jedoch nicht; der älteste derzeit bekannte Nilometer gehört zum Chnum-Tempel auf Elephantine und datiert in die Spätzeit (664-332 v. Chr.) (vgl. S. Seidlmayer, Die Vermessung des Nils im Alten Ägypten, in: fundiert, Wasser, 2004, Nr. 2).

[17] Tabellarische Inschriften auf dem Sockel der „Weißen Kapelle“ des Königs Sesostris‘ I. (12. Dynastie) im Tempel von Karnak datieren ungefähr 1920 v. Chr. und dokumentieren die Nilstände dreier Nilometer im Süden und Norden Ägyptens sowie im sogenannten Per-Hapi („Haus der Nilflut“) in der Region des heutigen Kairos (vgl. S. Seidlmayer, Die Vermessung des Nils im Alten Ägypten, in: fundiert, Wasser, 2004, Nr. 2). Kurt Sethe identifizierte seinerzeit Anfang des 20. Jh. das erhaltene Nilometer auf Rhoda als das oben genannte Per-Hapy, allerdings lässt sich diese Annahme nach heutigem Stand nicht bestätigen siehe dazu: K. Sethe, Beiträge zur ältesten Geschichte Ägyptens, in: Untersuchungen zur Geschichte und Altertumskunde Ägyptens, Bd. 3, 1905, S. 105).

[18] Vgl. W. Popper, The Cairo Nilometer, Berkeley & Los Angeles 1951, S. 16-29.

[19] Vgl. W. Popper, The Cairo Nilometer, Berkeley & Los Angeles 1951, S. 29.

[20] Vgl. M. Volait, The restoration of the Muhammad Ali Mosque in Cairo, 1931-1938, in: Claudine Piaton u. a., Building beyond the Mediterranean, 2012, S. 182.

[21] Vgl. D. Behrens-Abouseif, Islamic architecture in Cairo: an introduction, Leiden & New York & Köln 1992, S. 51.

[22] P. Lucas, Voyage du sieur Paul Lucas, Den Haag 1720, Bd. 2, S. 69 <https://www.e-rara.ch/zuz/content/zoom/14874416>.

[23] R. Pococke, A Description of the East, Bd. 1, London 1743-45, Taf. 12, S. 29 <https://archive.org/details/gri_33125009339603/page/n69/mode/1up>.

[24] F. L. Norden, Voyage d'Egypte et de Nubie, Bd. 2, Kopenhagen 1755, Taf. 25; 26 <https://archive.org/details/gri_33125008624443/page/n54/mode/1up> , <https://archive.org/details/gri_33125008624443/page/n56/mode/1up>. Vgl. AKL 111, 2021, 54; ThB 33, 1939, 503ff.

[25] C. L. Fourmont, Description historique et géographique des plaines d'Héliopolis et de Memphis, Paris 1755, Taf. 2, S. 130; Taf. 3, S. 142 <https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k1510888r/f179.item> , <https://gallica.bnf.fr/ark:/12148/bpt6k1510888r/f193.item>

[26] Vgl. E. F. Jomard (Hrsg.), Description de l'Égypte: ou, Recueil des observations et des recherches qui ont été faites en Égypte pendant l'expédition de l'armée française. Etat Moderne, Planches. Tome Premier, 1809, Bd. I, Taf. 23; 53 <https://doi.org/10.11588/diglit.4739#0029> , <https://doi.org/10.11588/diglit.4739#0059>.

[27] L. Mayer, Views in Egypt, from the original drawings in the possession of Sir Robert Ainslie, taken during his embassy to Constantinople, London 1801, S. 12 <https://archive.org/details/gri_33125012351108/page/n21/mode/2up>.

[28] D. Roberts, The Holy Land: Syria, Idumea, Arabia, Egypt, and Nubia, Bd. 3, London 1849, o. S. <https://digi.ub.uni-heidelberg.de/diglit/roberts1849bd6/0040/image,info>.

[29] Der begleitende Bericht Lucas‘ erwähnt ebenfalls keine Bedachung. Womöglich war die Nilpegelmessstelle seinerzeit nach oben hin offen oder Lucas verzichtete aus unbekannten Gründen auf die Darstellung der Kuppel und des Dachs.

[30] Popper hat vorgenommene bauliche Veränderungen am Nilometer ab 715 n. Chr. bis ins frühe 19. Jahrhundert zusammengetragen. (Arabische) Geschichtsschreiber und die „Description de l’Égypte“ dokumentierten einige der Umbauten und dienten Popper als Hauptquellen. Veränderungen nach 1801 nennt Popper in seiner Publikation aber nicht. Siehe dazu: W. Popper, The Cairo Nilometer, Berkeley & Los Angeles 1951, S. 16-29.

[31] Vgl. W. Popper, The Cairo Nilometer, Berkeley & Los Angeles 1951, S. 40.