Unsere Datenbank sammelt umfangreiches Bildmaterial und bietet einen Überblick über die im Projekt Antiquitatum Thesaurus erfassten grafischen Werke. Im Folgenden stellen wir ein Objekt vor, das uns – wie es auch mit den Gelehrten vor uns geschah – sofort fasziniert hat. Obwohl seine Herstellung ins 4. Jahrhundert eingestuft wird, wurde es im 17. Jahrhundert – wahrscheinlich wegen seiner Ikonographie – als ägyptisch angesehen.
Die französische Nationalbibliothek (Bibliothèque nationale de France, BnF) bewahrt dieses Objekt seit 1797 in ihrer Münzen-, Medaillen- und Antikenabteilung auf, wo es unter der Inventarnummer "bronze.1885" als „Wagenzubehör“ (élément de char) klassifiziert ist. Es gehörte zuvor einigen der bedeutendsten Sammler im Frankreich des 17. Jahrhunderts, wobei sowohl sein Aussehen als auch seine Funktion einzigartig und rätselhaft bleiben.
Unser „Kandidat“ besteht aus einem Würfel mit einem Knauf in Form eines Kuboktaeders (ein Polyeder mit acht dreieckigen und sechs quadratischen Flächen) und zwei seitlichen mit Schwanenköpfen (?) endenden Griffen. Sechs Dreiecke des Polyeders sind mit Blumen und zwei Quadrate sind mit hängenden Theatermasken graviert. Auf dem oberen Rand der Vorderseite des Würfels befindet sich eine Inschrift in silbernen Buchstaben: ADELFII. In der Mitte des Würfels ist eine Figur (ein pterophorus, d. h. ein Lektor-Priester) mit gefiedertem Kopfschmuck dargestellt. Diese Figur beugt sich nach vorn in Richtung eines Vogels (einer Gans, dem heiligen Tier der Isis?). In ihrer rechten Hand hält die Figur ein Musikinstrument (Sistrum) und in seiner linken eine Vase (Situla). Auf dem Boden befinden sich Mohnblumen (?) und im Hintergrund ist ein Fenster dargestellt. Auf dem Sockel ist ein Hund abgebildet, der einen Hirsch jagt. All dies bestätigt, dass es eine klare Unterscheidung zwischen einer Hauptvorderseite und einer Rückseite gibt, die völlig unverziert blieb. Die Unterseite weist eine tiefe quadratische Öffnung auf. Das Objekt ist aus Bronze gefertigt, während die Figuren Silbereinlagen sind.
Das Werk wurde erstmals als Holzschnitt in dem von Lorenzo Pignoria herausgegebenen Band Vetustissimae tabulae aeneae ... explicatio (Venedig 1605 [1]) dargestellt. Drei Jahre später wurde es als Kupferstich in der Publikation Characteres Aegyptici ... (Frankfurt 1608 [2]) – einer vom selben Autor herausgegebene neue Buchauflage zur Mensa Isiaca – abgebildet. Auf beiden Tafeln nimmt es eine zentrale Position zwischen fünf unterschiedlich angeordneten ägyptischen Statuetten und drei Amuletten ein.
Zehn bis fünfzehn Jahre später findet eine andere Darstellung Platz im Cabinet de Peiresc (Paris, ca. 1620 [3]) unter den aquarellierten Zeichnungen, die Antiquitäten, Raritäten und Kuriositäten aus der Sammlung des französischen Gelehrten Nicolas-Claude Fabri de Peiresc (1580–1637) dokumentieren. Auf dem Trägerblatt sind zwei schwarz gerahmte Zeichnungen von unterschiedlicher Größe montiert. Sie zeigen das Artefakt in der Vorder- bzw. Unteransicht. Die obere Zeichnung ist größer, vertikal angeordnet, trägt einen Titel am unteren Rand sowie lange Anmerkungen zu Textpassagen antiker Autoren, die sich mit ähnlichen Objekten befasst haben.
Nachdem das Artefakt im Besitz von Achille II. de Harlay, comte de Beaumont et seigneur de Dolot (1606–1671) war, gelangte es direkt nach seinem Tod in die Sammlung der Abtei Sainte Geneviève in Paris. Das Objekt wurde 1692 von ihrem Bibliothekar Claude Du Molinet (1620–1687) im Katalog Le cabinet de la bibliothèque de Sainte Geneviève [4] in einem Eintrag beschrieben und in einer Frontalansicht zusammen mit anderen ägyptischen Artefakten aus der Sammlung abgebildet.
Schließlich fügte Bernard de Montfaucon (1655–1741), einer der ersten Gelehrten, der ein enzyklopädisches Werk über die Altertümer in 15 Bänden mit etwa 5.000 Abbildungen konzipierte, eine Illustration des Objekts in eine Tafel seiner L‘antiquité expliquée [...] (Paris 1719–1724 [5]) zusammen mit anderen Antiken ein. Der Kontext des entsprechenden Kapitels befasst sich mit antiken Landhäusern, Gärten und der Wasserversorgung durch Leitungen und Zierbrunnen. Der französische Gelehrte wusste um die Herkunft des Stücks zunächst aus der Sammlung von Peiresc und dann aus der Pariser Abtei.
Das Artefakt ist in mehrfacher Hinsicht herausfordernd.
In der Datenbank der BnF wir das Objekt in römische Zeit (4. Jh.) datiert, jedoch ohne jegliche Erklärung.
Ein Hinweis findet sich in den Briefen, die Peiresc am 18. Dezember 1620 bzw. am 1. Juli 1624 an Girolamo Aleandro schrieb. [6] Darin vergleicht der französische Gelehrte das Epistomium mit einer Szene in einem Kalender aus dem Jahr 354 n. Chr. Ausgehend von einer karolingischen Kopie hatte Peiresc Zeichnungen des antiken Buches anfertigen lassen, die er unter der Schirmherrschaft der Familie Barberini mit Kommentaren von Aleandro stechen lassen wollte. Wenngleich die karolingische Vorlage heute als verschollen gilt, kennen wir ihren Inhalt aus den Zeichnungen Peirescs, die außerdem mehrfach kopiert wurden. [7] Zwischen den Monatsbildern befand sich eine ähnliche Darstellung der Figur mit dem Federschmuck, die mit dem Isis-Kult und dem altägyptischen Hilaria-Fest im November in Verbindung gebracht wurde. [8] Nach Peiresc handelt es sich sowohl bei dem Kalender als auch bei dem fraglichen Objekt um Produkte „jener niedrigen Jahrhunderte“, wodurch er gewisse Ungenauigkeiten in der Darstellung eines ägyptischen Mysteriums erklärt.
Eine Datierung des Artefakts konnte Peiresc dank der Identifizierung des vermeintlichen Besitzers vornehmen. Ausgehend von dem eingravierten Namen – ADELFII –, ordnet er es einem römischen Amtsträger zu, dem Stadtpräfekten Clodius Adelfius. [9] Dieser Datierungsvorschlag wurde im 17. Jahrhundert nicht weiter diskutiert, aber es gab eine Tendenz, das Artefakt als ägyptisch zu klassifizieren (heute würden wir eher ‚ägyptisierend‘ sagen), wahrscheinlich aufgrund des Vorhandenseins eines typischen Instruments (Sistrum) bzw. eines geflügelten Priesters (pterophorus) und der Beziehung zu den römischen fasti (chronologische oder kalenderbasierte Listen von offiziellen und religiös Ereignissen) zu Ehre der Isis.
Obwohl Pignoria als erster eine Abbildung veröffentlichte, wurde das Objekt im cabinet von Peiresc in Aix-en-Provence aufbewahrt. Der Franzose sandte eine Zeichnung des Epistomiums an seinen Freund und Kollegen in Padua, wie eine Passage in einem Brief vom 16. Dezember 1620 bestätigt. [10] Peiresc schreibt, er habe die Figur (die Zeichnung ?) an Pignoria geschickt, der sie für seine Publikation zur Mensa Isiaca von 1605 stechen ließ (siehe oben).
Diesbezüglich wird Peirescs wohlbekannte Großzügigkeit bei der Weitergabe von Informationen und Material (ein Teil der ursprünglichen Sammlung von Athanasius Kircher stammt von ihm) auch durch seine reichhaltige Korrespondenz bestätigt. Die Fragen nach der Herkunft bzw. Entdeckung des Objekts und wie Peiresc in seinen Besitz gelangte, sind allerdings nach wie vor ungelöst.
Die im 17. und in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstandenen Darstellungen des Epistomiums lassen interne Bezüge zwischen den grafischen Werken erkennen. Das Objekt wurde sowohl auf der Grundlage früherer Zeichnungen bzw. Stiche als auch durch eine direkte Beobachtung wiedergegeben.
Was mag die Motivation für das Sammeln eines vermeintlichen Epistomiums gewesen sein? Da dieses nur eine kunstvoll geschmückte Hauptseite besitzt, scheint es sich nicht um ein nobile opus hohen materiellen Werts gehandelt zu haben. Dennoch ist die ungewöhnliche, künstlerische Aufwertung eines Objekts, das vor allem funktionalen Zwecken diente – wie etwa der Erleichterung des Auf- bzw. Zudrehens eines Wasserstrahls –, recht überraschend. Das angebliche Epistomium, ein Produkt kleinerer aristokratischer Kunst, ist aus Bronze mit Silberintarsien gefertigt, als ob der „Wasserhahn“ als exklusiver Luxusgegenstand angesehen wurde. Die Tatsache, dass es mit dem Namen ADELFII personalisiert wurde, zeugt von der Individualität, der Exklusivität und der Finanzkraft seines Besitzers sowie von seiner Verbindung mit den Isis-Riten. Diese Aufwertung würde wahrscheinlich mehr Sinn machen, wenn es sich bei dem Artefakt um ein Wagenzubehör handeln würde. Wie auch immer, das Epistomium spiegelt anschaulich die Sammelinteressen der Epoche wider, d. h. Kuriositäten und Raritäten im Zusammenhang mit der antiken Kultur.
Obwohl bei dem Objekt noch Klärungsbedarf hinsichtlich seiner Herkunft, Datierung und Funktion besteht, sind die rekonstruierten Kontexte beispielhaft für unsere Arbeitsweise:
Antiquitatum Thesaurums strebt an, alle grafischen Darstellungen mit den dazugehörigen antiken Werken zusammenzuführen, wenn auch gelegentlich die Artefakte nicht mehr erhalten sind oder in Museen bzw. Privatsammlungen noch identifiziert werden müssen. Unser Vorhaben soll aber auch dazu dienen, die Sammlungspraktiken und -interessen im 17. und 18. Jahrhundert sowie die internationalen Beziehungen im Zusammenhang mit der Erforschung der Antike in ihren vielen Facetten näher zu beleuchten.
[1] Lorenzo Pignoria: Vetustissimae tabulae aeneae sacris Aegyptiorum simulacris [...] explicatio, Venedig 1605, Taf. 2.
[2] Lorenzo Pignoria: Characteres Aegyptici, hoc est Sacrorum, quibus Aegyptii utuntur, simulachrorum accurata delineatio et explicatio, Frankfurt 1608, Taf. 1.
[3] [Recueil. Cabinet de Peiresc], Paris, Bibliothèque nationale de France, Dép. Estampes et Photographie, Rés. AA-54-FOL, Fol. 99.
[4] Le cabinet de la bibliothèque de Sainte Geneviève. Divisé en deux parties [...], Par le R. P. Claude du Molinet, chanoine régulier de la Congrégation de France, Paris 1692, Taf. IX, Nr. II.
[5] Bernard de Montfaucon: L'antiquité expliquée et représentée en figures / Antiquitas explenatione et schematibus illustrata, 15 Bde., Paris 17191 (1722-242), Bd. 3,1, Taf. 65.
[6] Vatikanstadt, Biblioteca Apostolica Vaticana, Barb. Lat. 6504, Fol. 164–165.
[7] Für den Kalender aus dem Jahr 354 vgl. Josef Strzygowski: Die Calenderbilder des Chronographen vom Jahre 354, Berlin 1888, S. 12; Henri Stern: Le calendrier de 354. Étude sur son texte et sur ses illustrations (Institut français de Beyrouth, Bibliothèque archéologique et historique, IV), Paris 1953.
[8] David Jaffé: Rubens’ Self-portrait in Focus, (Ausstellungskatalog, Australian National Gallery, Canberra, 13.08.1988–30.10.1988) Brisbane 1988, S. 46; Sydney Hervé Aufrère: La momie et la tempête. Nicolas-Claude Fabri de Peiresc et la curiosité égyptienne en Provence au début du XVII siècle, Avignon 1990, S. 210–212; Amanda Claridge, Ingo Herklotz: Classical manuscript illustrations (The Paper Museum of Cassiano Dal Pozzo: A, Antiquities and architecture; 6), London 2012, bes. S. 17, 43–50.
[9] Brief an Aleandro vom 18. Dezember 1620: “Et perciò che c’è un iscrittion in lettere d’argento rimesse nel metallo co’l nome ADELPHII, et che ne’ fasti prefectorij si trova nel consolato post Sergium et Nigrinianum … un Prefetto Urbano chiamato Clodius Adelfius…” non so se si potrebbe congietturare, che l’opera dove era posta detta chiave fosse stata fabricate sotto quell’Adelfio.” zit. nach Strzygowski 1888, op. cit., S. 12.
[10] Zit. nach Aufrère 1990, op. cit., S. 212.
[11] “…V. S: [Aleandro] n’haverà veduto un simile ben che assai mal disegnata, nel libro del S. Lorenzo Pignoria della Tavola Isiaca … in una chiave da serrar canali di Aqua (…) Et forzi che tale chiave di bronzo fu adoperata ne’ canali dell’acque necessarie per le lavationi usate ne’ sacri di Iside …”, zit. nach Strzygowski 1888, op. cit., S. 12.